Kapitel 2025.06
- Christian M. Huber

- 19. Okt.
- 6 Min. Lesezeit
„Ich… das…“, Dennis Gedanken machten Halt wie beim einem Computer, an dem man die Reset-Taste gedrückt hatte. Nichts ging mehr. Während in seinem Kopf alle Programm neu zu laufen begannen, sah Dennis, wie das schwarze Loch der Mündung langsam in seine Richtung wanderte. Spürte die Ungeduld seines Gegenübers. Dann war alles wieder an seinem Platz.
„Was… muss ich tun?“, stotterte er zögerlich. Dann mit festerer Stimme:
„Erschieß mich nicht. Ich arbeite für euch“, und Dennis wurde klar, dass er noch nicht einmal ansatzweise wusste, wer dieses „Euch“ in seinem Satz überhaupt war.
„Gut“, kam es trocken aus dem Mund des Unbekannten und es hörte sich an, als hätte er keine andere Reaktion von Dennis erwartet. Dann stand er auf, steckte seine Waffe zurück ins Holster und verschwand ohne weitere Worte aus dem Blickfeld.
Dennis schien alleine zu sein. Er kniff die Augen zusammen und versuchte mehr von dem Raum zu erkennen. Die Helligkeit blendete ihn jedoch zu sehr und so sehr er auch versuchte, den Kopf zu drehen. Es gelang ihm kaum. Diejenigen, die ihn an den Stuhl gefesselt hatten, waren Meister ihres Fachs.
Die Zeit rann langsam dahin und begleitet vom leisen Brummen des Scheinwerfers, dominierte zunehmend sein Herzschlag in der ansonst herrschenden Stille. Die anfängliche Erleichterung, dass keine Waffe mehr auf ihn zeigte, wich mehr und mehr innerer Unruhe. Jener Unruhe, die man immer dann empfand, wenn man etwas entscheidend Wichtiges vergessen hatte, sich jedoch partout nicht mehr daran erinnern konnte, was es war.
Dass er seine Arme Ellenbogen abwärts nicht mehr spürte, an seinen Beinen Millionen Ameisen auf und ab zu laufen schienen und die Kälte sich aufgrund seiner Nacktheit inzwischen bis zu den Knochen durchgefressen zu haben schien, trug nicht zur Verbesserung seiner Laune bei. Dennis räusperte sich und hoffte damit, auf sich aufmerksam zu machen. Ein schrecklich trockenes Kratzen ertönte aus seinem Hals.
Nichts. Aus Unruhe wurde Angst. Davor, dass der andere es sich nochmals überlegt hatte und anstatt ihn hier zu erschießen, einfach zurücklassen würde. Einsam, an den Stuhl gebunden und unfähig, sich alleine aus dieser Lage zu befreien. Sein Herz schlug Techno in seiner Brust. Sein Atem beschleunigte sich. Wurde zu schnell. Das konnte nicht sein. Der Revolvermannverschnitt konnte ihn doch nicht einfach hier zurücklassen. Dennis Panik gewann die Oberhand.
„Hallo? Ich bin… dabei… was ist… jetzt?“, stoßweise zerhackt durch die überwältigenden Gefühle und seine Atmung. Wieder nichts. Er schien alleine zu sein.
„HALLO?“, panisch. Laut.
„KLAPPE DA VORN!“, herrschte ihn eine unbekannte Männerstimme an. Dennis zuckte zusammen und dort, wo er noch Gefühl in seinem Körper verspürte, schnitten die Fesseln schmerzhaft in die Haut. Er schloss die Augen. Ein Schluchzen entfuhr seinem Körper. Eine Träne rann über seine Wange. Kalt. Nass. Weitere folgten. Sein Körper entlud alle Anspannung in diesem Ausbruch unbeherrschter Gefühle. Vielleicht rettete ihn das davor, die Besinnung durch die zu schnelle Atmung zu verlieren. Dafür brachte es ihn jedoch in andere Schwierigkeiten.
„Seht euch dieses Baby an“, wieder die Stimme des Revolvermanns.
„Heult wie ein kleiner Junge. Ob der uns wirklich helfen wird. Unsichtbarkeit hin oder her.“
„Der Boss will es so, dass weißt du!“, eine dritte Stimme.
„Halt’s Maul. Das weiß ich selbst. Jetzt bindet ihn endlich los. Ich will den Jammerlappen nicht mehr weiter hier haben.“
Dennis hörte Schritte. Dann zerrte jemand grob an seinem Körper und den Fesseln. Erst schien das keinen Unterschied zu machen und was auch immer ihn am Stuhl festhielt, wurde noch enger. Dann wurde seine Atmung freier. Er konnte sich mehr und mehr bewegen. Wagte es jedoch nicht, seinen Kopf nach hinten oder zur Seite zu drehen und die Augen zu öffnen. Er wollte niemanden direkt ansehen. Hatte Angst, dann doch erschossen zu werden. Mehr und mehr kam er frei. Seine Unterarme begannen wie leblos rechts und links herunter zu baumeln. Das Kribbeln in seinen Beinen und Füßen verstärkte sich und die Schmerzen in seinem ganzen Körper schienen Luft für einen nahen Höhepunkt zu holen.
„Du kannst gehen!“, befahl derjenige, der in vorhin angeherrscht hatte, die Klappe zu halten. Gleichzeitig wurde es dunkel und Dennis konnte durch die geschlossenen Augen keinerlei Licht mehr wahrnehmen. Zögerlich öffnete er sie. Sah nichts. Aus der Schwärze schälten sich nur langsam zaghafte Umrisse.
„Neben dir liegen ein paar Kleider. Machst du dich unsichtbar, wirst du es bereuen. Zieh sie an. Dann läufst du nach Hause. Auf dem direkten Weg. Keine Spielchen. Spielst du mit uns, wirst du es bereuen. Die Polizei ist Tabu. Wenn du irgendwem davon erzählst, was hier passiert ist, wirst du es bereuen! Glaub bloß nicht, dass du Sonderrechte genießt, nur weil der Boss persönlich einen Narren an dir gefressen hat. Du wirst von uns hören, sobald wir dich brauchen! Und jetzt geh endlich du jämmerlicher Lappen!“
Dennis hörte, wie der Mann hinter ihm ausspuckte. Dennis spürte jedes kalte Detail dieser verachtenden Geste. Doch so sehr er auch fliehen wollte. So sehr Dennis am liebsten aufgesprungen und dann so schnell er konnte davon gerannt wäre. Wie damals nach dem Vorfall mit dem Bus. So sehr sein Geist sich genau diesem Reflex hingeben wollte, so wenig war sein Körper in der Lage dazu. Er gab sich einen kleinen Ruck, wollte nach vorne aufstehen. Mehr als ein paar Millimeter hob sich sein Hintern jedoch nicht vom Stuhl. Noch war er nicht vollständig Herr seiner Beine.
Einatmen. Ausatmen. Lauschen. Nichts. Hatten sie ihn alleine gelassen? Er drehte langsam den Kopf. Schwaches diffuses Restlicht ließ ihn einen undefinierbaren Haufen Stoff zu seiner Rechten auf dem Boden erkennen. Die Begrenzungen des Raums lagen außerhalb seiner Wahrnehmungsmöglichkeiten. Schwärze umgab ihn, durchbrochen durch die wenigen Konturen direkt um ihn herum.
Er versuchte erneut aufzustehen. Es gelang. Fast. Seine Knie versagten. Er knickte nach vorne ein. Fiel. Harter Beton. Wieder stach etwas in seine Rippen auf der linken Seite. Dennis stöhnte auf. Der Laut klang fremd aus seinem Mund. Einatmen. Flach, um die Schmerzen so gering wie möglich zu halten. Ausatmen. Er schien nun endgültig am Tiefpunkt in seinem Leben angekommen zu sein. Hatte weder die körperliche noch geistige Kraft, aufstehen zu können. Liegenbleiben. Hier in der Dunkelheit. Alleine. Der Gedanke fühlte sich fast schon tröstlich an.
Mit jedem Atemzug verblasste der Schmerz an seinen Rippen ein wenig mehr. Rückte in den Hintergrund. Mit jedem Luftholen kribbelten weniger Ameisen in Armen und Beinen. Nur die Kälte schien sich Augenblick für Augenblick tiefer in seinen Körper zu fressen. Dennis hob den Kopf. Richtete sich auf. Sein Blick fiel auf den Stuhl seiner Pain. Weiter hinten im Raum fiel diffuses Licht durch einen schmalen Spalt in der Wand. Eine Tür? Er konnte es nicht erkennen. Dieser zarte Balken Helligkeit verhießt jedoch Freiheit. Frische Luft. Er musste hier raus. Stand auf. Trotzte der Versuchung im hier und jetzt alles aufzugeben und zog sich langsam an. Nicht einfach in der Finsternis. Erschwerend kam auch hinzu, dass Hose und Pullover deutlich zu groß waren. Mehr hatte man ihm nicht gegönnt.
Mechanisch setzte er seine blanken Füße in Bewegung. Raus hier. Mehr konnte er nicht denken. Wie ein mit einem Uhrwerk aufgezogenen Roboter schlurfte er nach Hause. Schritt für Schritt von einem inneren Autopiloten angetrieben und doch ohne jede Erinnerung daran, wie er den Weg geschafft hatte.
<später>
Dennis saß am Boden. Den Rücken lehnte er an die Tür seiner Wohnung. Mit dem linken Arm umschlang er seine angezogene Knie, als ob er sich so klein wie möglich machen hatte wollen. In der rechten Hand hielt er sein Mobiltelefon. Starrte vorbei an schmutzigen Fingern auf das Display. Die übergroße Kleidung hing wie ein Mahnmal der vergangenen Erlebnisse an seinem Körper. Du wirst von uns hören, sobald wir dich brauchen! Dieser Satz schwebte wie eine dunkle Wolke drohend in seinen Gedanken. Machte Dennis Angst. Immer wieder hörte er die Worte. Die Polizei ist Tabu. Du wirst es bereuen. Der Daumen schwebte über dem grünen Hörersymbol. Wenige Millimeter trennten Dennis davon, einen Anruf in den Funkäther hinaus zu senden. Ein einziges Muskelzucken und die Technik würde den Rest für ihn erledigen. Die eingeblendeten Ziffern begannen vor seinen Augen zu verschwimmen. Sein Finger zitterte, berührte zart das Display.

Die Ansicht änderte sich. Dennis realisierte langsam, was er soeben getan hatte. Der Anruf wurde aufgebaut. Trotz des nicht eingeschalteten Lautsprechers hörte Dennis die typischen Laute, die sein Telefon dabei machte. Dann ertönte eine mechanisch klingende Stimme wie aus weiter Ferne aus dem Telefon:
„Polizeinotruf. Bitte bleiben sie in der Leitung…“


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